2003 (Gerdauen)
Am 29. Mai 2003, pünktlich um 6 Uhr, startete unsere 10-Tage-Reise nach Gerdauen in Köln. Vom Busparkplatz in der Komödienstraße ging es los. Herr Westermann von der Fa. Lais - Westermann fuhr uns mit seinem 4-Sterne-Bus (vom Reisebüro Manthey gechartert) Richtung Hannover. Bei einer Außentemperatur von 26 Grad waren wir froh, in einem klimatisierten Bus zu sitzen. Nach Kurzstopps in Hagen und an der Raststätte Tecklenburger Land zur Aufnahme weiterer Mitreisender erreichten wir pünktlich den Hauptbahnhof Hannover. Hier auf dem Busbahnhof stiegen fast die Hälfte aller Teilnehmer zu. Nach kurzer Begrüßung, Fahrerwechsel und WC-Pause ging es um 11.30 Uhr weiter in Richtung Magdeburg.
Herr Hans Becker, unser neuer Fahrer, erreichte die Raststätte Magdeburger Börde pünktlich um 12.30 Uhr. Nachdem unsere Brunhilde Peklo zugestiegen war, rollte unser Bus mit 25 Fahrgästen weiter zur polnischen Grenze in Frankfurt/Oder. Hier hatten wir etwa 1 Stunde Aufenthalt bis wir nach Schneidemühl (Pila) weiterfahren konnten. Dort im Hotel "Rodlo" wurden wir mit einem Glas Sekt begrüßt. Im Speiseraum spielte für uns ein Akkordeonspieler. Ich konnte nicht anders, ich gab ihm die Noten unseres, von meinem Onkel Klaus Reck komponierten und getexteten Liedes "Gerdauer Land mein Heimatland..." Es dauerte nicht lange und im Raum erklang zur Freude aller das Lied und alle sangen kräftig mit.
Am nächsten Morgen starteten wir in Richtung polnisch-russischen Grenzübergang Braunsberg. Mittagspause machten wir bei herrlichem Wetter in Marienburg (Malbork) in Form eines Picknicks. Hans Becker hatte Kaffee aufgeschüttet und Würstchen heiß gemacht, so ließen wir es uns im Grünen schmecken. Dann rollten wir weiter zur Grenze. Nach etwa 1,5 Stunden Abfertigung durften wir die Grenze Richtung Königsberg passieren. Von hier ging es weiter nach Insterburg, wo wir um 17.30 Uhr ankamen. Hier, vor dem Hotel "Zum Bären" wurden wir traditionell mit Brot, Salz und Wodka begrüßt, dazu spielte ein Akkordeonspieler deutsche Lieder.
Um 19 Uhr trafen wir uns zum Abendessen in den Speiseräumen des Hotels "Zum Bären". Anschließend saßen wir noch zum gemütlichen Tagesausklang im kühlen Innenhof des Hotels beim kalten "Drei Bären Bräu" (12%) .
Am Samstag nach dem Frühstück machten wir eine kleine Stadtrundfahrt durch Insterburg. Unsere Dolmetscherin Swetlane versuchte uns die Stadt etwas näher zu bringen. Bei dieser Gelegenheit tauschten wir auch Euro in Rubel, vor unserem ersten Besuch in unserer Heimatstadt Gerdauen. Auf der Fahrt dorthin fuhren wir zu unserem Erstaunen in fast 10 Meter Entfernung an der russisch-polnischen Grenze vorbei. Wir kamen über Altendorf nach Gerdauen rein. Der Bahnübergang am Bahnhof zeigte uns nur stark verrostete Schienen, die Signale standen alle auf Rot, ein Zeichen dafür, dass in unserem Gerdauen nicht mal mehr ein Zug ankommt oder gar abfährt.
Unser erster Halt war am "Verlobungsweg". Hier stiegen die Geschwister Leu aus und gingen zu Fuß in die Siedlung zu ihren bekannten russischen Familien. Wir machten noch einige Fotos und fuhren dann weiter zum Krankenhaus. Hier meldeten wir uns an und machten einen Besuchs-Termin für Dienstag aus. Von hier ging es zum Marktplatz Gerdauen. Dort setzten wir alle, die dort bleiben und ihre russischen Familien besuchen wollten, ab. Dann ging es in Richtung Sophienberg weiter, wo die Brüder Niebuhr ihre Wurzeln hatten. Kurz vorher setzten wir die beiden ab, von wo aus sie mit zwei Mitstreitern zu Fuß weiter mussten. Nachdem wir einen Treffpunkt um 16 Uhr ausgemacht hatten, fuhren wir mit dem Rest der Mannschaft zum Forsthaus Damerau, wo unser Förstersohn Joachim Nagel aufgewachsen ist. Mit ihm machten wir dort einen ausgiebigen Spaziergang durch die Flur. Nachdem wir unsere 4 Männer von Sophienberg abgeholt hatten, trafen wir uns alle wieder auf dem Markt, von wo wir um 18 Uhr zurück nach Insterburg fuhren.
Am Sonntagmorgen besuchten wir als erstes in Gerdauen ein Kinderheim, welches uns bis dahin unbekannt war. An der Plewkastraße - Schwarzer Weg gelegen, beherbergt es dort ca.30 Kinder zwischen 3-12 Jahren, Kinder von alkoholkranken Eltern und Waisenkinder. Diesen Kindern hatten wir getragene Kleidung, Schuhe und Süßigkeiten mitgebracht. Die Kinder freuten sich wirklich sehr darüber. Nach herzlichem Abschied besuchten wir die Schule in Gerdauen. Wir durften sogar die Klassenräume besichtigen, was bei einigen doch Wehmut aufkommen ließ, waren es doch immer noch die gleichen Schulräume wie damals als wir ...
Die Lehrpersonen Anja, Sofie und Olga, zeigten uns ein Haus, etwa 30 Meter von der Schule, in Richtung Tennisplätze gelegen, welches renoviert und umgebaut wurde. Dieses Haus soll ein Haus der Begegnung für Russlanddeutsche und deutsche Gäste werden. In diesem Haus entstehen 4 Doppelzimmer mit Gemeinschaftsraum und Gemeinschaftsküche. Dies wäre die erste Übernachtungsmöglichkeit für deutsche Besucher. Doch im Moment, wie könnte es anders sein, geht es nicht so recht weiter mit dem Bau, weil mal wieder das Geld fehlt, um wenigstens vor dem Winter die restlichen Fenster einbauen zu können. Man hoffe aber, trotzdem das Haus bis Ende 2004 fertig zu stellen. Es wäre einfach zu schön, wenn das wahr werden würde. Drei Fenster sind ja schon eingebaut in guter Kunststoff-Qualität. Auf unsere Frage, was denn so ein Fenster kostet, wurde uns der Preis von ca. 180,- Euro genannt.
Inzwischen hatte Anja den Schlüssel zum Kirchturm besorgt und ich bestieg, mit Foto-Kamera und Videoausrüstung bepackt, mit einigen Mutigen den Turm. Ein traumhaftes Wetter begleitete uns auf der gesamten Reise, so auch an diesem Sonntag und bescherte uns von oben einen herrlichen Blick auf Gerdauen und das Umland. Anschließend besuchten wir das alte Ehrenmal in der Nähe des Bahnhofs, welches den gefallenen Kameraden von 1914-1918 gewidmet ist. Olga hatte es gereinigt und die Farbe der Inschrift erneuert. Man sollte es hoch anrechnen, dass Olga im russischen Gerdauen ein deutsches Ehrenmal pflegt. Zu Fuß spazierten wir weiter zum Bahnhof, der heute als Zollamt dient. Wehmut kommt auf, wenn man sieht, dass die Gleise verrostet, das Stellwerk abgerissen und zwei Wassertürme in den Gleisanlagen die nächsten 3 Jahre wohl nicht mehr standhalten werden. Und trotzdem, ein paar Signale waren noch beleuchtet, zwar zeigten sie Rot, Hoffnung oder Abschied, wer weiß? Der Wasserturm, links vom Bahnhof macht von weitem noch einen guten Eindruck, doch aus der Nähe sieht man am Dach den zunehmenden Verfall des Turmes. Am Schluss unseres Spazierganges wurden wir von Olga noch zum Kaffee eingeladen. Olga bewohnt mit ihrem Mann ein kleines Siedlungshaus am Nachtigallenweg mit kleinem Garten, Hühnern, Tauben und einem Hund. Hier stellte ich auch fest, dass inzwischen viele Russen einen Garten mit Gemüse, Kartoffeln und Obst angelegt hatten Im Wohnzimmer wurden wir herzlich und gut bewirtet, dann ging es zurück zum Markt, wo schon die anderen warteten. Dort fiel uns auf, dass "Genosse Lenin" nicht mehr auf seinem hohen Sockel stand, sondern auf ebenem Boden im Grünen. Ich fragte Anja warum das so sei, sie antwortete mir, dass man auf den Herren nicht mehr gut zu sprechen sei. Ich bin aber nicht sicher, ob das der wirkliche Grund war, weswegen man ihn entthronte. Gemeinsam gingen wir dann zum Taufstein, vor dem Haus der Familie Frey. Anja hatte Blumenpflanzen aus ihrem Garten besorgt und Brigitte Trennepohl pflanzte diese in den Taufstein, Wolfgang Würfel wurde als Täufling zu "Katschmareck" umgetauft und wollte auch so genannt werden. Anschließend bildeten wir einen Halbkreis vor dem Taufstein und sangen das Ostpreußenlied "Land der dunklen Wälder..." Dann ging es zurück nach Insterburg.
Am Abend, nach dem Essen, sprach ich noch mal das Problem mit dem fehlenden Geld für die Begegnungsstätte in Gerdauen an und fragte, ob wir denn bereit seien, ein Fenster zu stiften. Der Versuch gelang, die Sammlung ergab stolze 205,- Euro.
Am Montag um 7.30 Uhr starteten wir zu unserem großen Ausflug in Richtung Memel. Hier hatte ich mich zeitlich sehr verschätzt, so hatten wir durch die große Entfernung und Grenzkontrolle sehr viel Zeit verloren und konnten in Memel nur eine kurze Führung mitmachen. Dann ging e mit der Fähre hinüber auf die Kurische Nehrung. Wir befuhren die Nehrung in voller Länge, fast 100 km, mit einer kurzen Pause vor Nidden. Hier nutzten einige die Chance und machten einen Abstecher durch den Dünensand zur Ostsee. Auch hier nahm "Katschmareck" die Gelegenheit wahr und schwamm in der Ostsee. Anschließend gab es Würstchen und Kaffee aus der Bordküche, dann fuhren wir über Königsberg nach Insterburg zurück, wobei wir noch großes Glück hatten, als auf der Autobahn zwei Kühe vor unseren Bus sprangen. Unser Fahrer Hans Becker bewies durch seine schnelle und sichere Reaktion sein Können.
Am Dienstagmorgen besuchten wir ein drittes und letztes Mal unser Gerdauen. Zuerst fuhren wir das Krankenhaus an und machten dort unseren Besuch. Brigitte hatte für den Arzt Medikamente mitgebracht und für die Kinder auf der Kinderstation gab es von uns Spielzeug und Süßigkeiten. Sehr traurig stimmte der Anblick eines kleinen dreijährigen Mädchens, abgemagert, nur Haut und Knochen, geistig nicht gesund, so hatten es seine alkoholkranken Eltern hier abgegeben. Das Kind hat keine Überlebenschance, seit langem hat es nicht mehr so glücklich gelächelt, als wie zu dem Zeitpunkt, als es von uns Spielzeug bekam. Der Zustand des Krankenhauses hat sich seit 1998 weder innen, noch außen gebessert.
Auf dem Markt trennten wir uns mit dem Versprechen, um 17 Uhr wieder am Bus zu sein. So ging jeder seiner Wege, einige kauften noch Obst für das Kinderheim und fuhren es dorthin, andere machten noch mal einen Besuch im langen Haus. Ich zog, mit Kamera und Videoausrüstung bewaffnet und einigen Mitreisenden zur ehemaligen Badeanstalt von Gerdauen. Anja ging mit uns und zeigte uns den rechten Weg dorthin, da inzwischen ein russischer Friedhof oberhalb des Banktinsees angelegt wurde. Die Sonne stand günstig und ich wollte von der Badeanstalt aus Gerdauen aufnehmen. Als wir am Seeufer ankamen schwamm dort schon ein Hut auf dem Wasser und darunter unser Wolfgang Würfel (Katschmareck). Seinen Reisepass mit Visa, hatte er sorgfältig in einer Frischhaltetüte (eine Tüte mit Löchern) verpackt und in seiner Badehose verstaut. Aber es gab später deswegen keine Schwierigkeiten an den Grenzen. Zurück in Gerdauen machten wir noch einen kleinen Einkauf in Form von russischen Bonbons und Kaffeeteilchen. Dann trafen wir uns alle wieder am Markt. Ich übergab mit Worten des Abschieds an Olga das Kuvert mit 205,- Euro Inhalt für ein Fenster der Begegnungsstätte. Mit großer Freude und Dankbarkeit wurde dies angenommen. Nach herzlichem Abschied von unseren Lehrpersonen, die für uns ja auch Dolmetscher waren, ging es zurück nach Insterburg. Als wir am Kuckuckswäldchen vorbei fuhren, erklang im Bus, mit zum Teil gebrochenen Stimmen und Tränen in den Augen, das Lied, "Nun Ade du mein lieb Heimatland, lieb Heimatland Ade...." War es doch für einige der letzte Besuch in der Heimat. Am Stadtrand von Insterburg machten wir noch einen kurzen Fotostopp am Kriegsgräber-Friedhof. "Hier ruhen im Tode vereint deutsche und russische Soldaten 1914-1918 und 1939-1945", so das Schild am Eingang des Friedhofs. Ein beklemmendes Gefühl war das was übrig blieb, als ich den Friedhof verließ.
Der Abend im Hotel bescherte uns zum Abschied noch russische Folklore. Vier junge, hübsche Russinnen sangen für uns unter der Leitung ihrer Trainerin russische und deutsche Volkslieder. Swetlane erhielt von uns als Dank für ihre treuen Dienste, ein Geldgeschenk. Geld ist das beste, womit man in Russland was anfangen kann.
Am Mittwochmorgen, beim Einstieg in unseren Bus, spielte ein Akkordeonspieler den Schneewalzer. Wahrscheinlich konnte er den am besten und er wusste, das ist was Deutsches. So fuhren wir denn Richtung Preußisch Eylau zur russisch - polnischen Grenze. Hier nahm unsere Swetlane entgültig von uns Abschied, denn sie musste nach Insterburg zurück. Wir setzten unsere Reise in Richtung Nikolaiken fort. Über Rastenburg, der Wolfsschanze, fuhren wir zu einem neuen Besichtigungsort, dem ehemaligen Oberkommando des Heeres am Mauersee. Hier sind die ehemaligen Bunker noch alle erhalten und nicht gesprengt. Diese Anlage war in diesem Jahr erstmals geöffnet und braucht noch etliche Jahre, um ordentlich begehbar zu sein. In Nikolaiken machten wir noch eine Schiffstour auf dem Spirdingsee an deren Ende ein Gewitter aufzog und es erstmals während unserer Reise zu regnen begann Wir verbrachten noch einige schöne Tage in Masuren, bevor wir wieder den langen Weg nach Hause antraten. Diese 10 Tage werden uns noch lange in guter Erinnerung bleiben. Wer zum nächsten Gerdauener Treffen nach Bad Pyrmont kommt, wird den Videofilm der Reise sehen können.
Jörg Beißel (Gerdauen)